Betroffene Richter müssen gegen sie gerichtete Befangenheits- anträge des Klägers ernstnehmen und pflichtgemäß behandeln!
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.05.2022 - 9 W 24/22 (LG Konstanz)
Ein Richter muss die Schriftsätze der Parteien lesen, die Durchsicht eines Inhaltsverzeichnisses genügt nicht. Übersieht der Richter noch dazu einen Befangenheitsantrag (zweimal), kann das Misstrauen an der Unparteilichkeit des Gerichts begründen. Verstößt der Richter zudem gegen die Wartepflicht aus § 47 ZPO, lässt dies den Schluss auf eine evident fehlende Sorgfalt des Richters zu und stellt einen schwerwiegenden Verstoß dar.
Der Fall:
Die Klägerin hat der Beklagten ein Gewerbeobjekt zum Betrieb eines Restaurants untervermietet. Im Zusammenhang mit diesem Vertragsverhältnis streiten die Parteien im Verfahren über verschiedene wechselseitige Ansprüche.
Die Klägerin hatte daraufhin in einem Schriftsatz am 02.08. 2021 Klage gegen die Beklagte erhoben, mit dem Antrag, die Beklagte aufgrund erheblicher Pflichtverletzungen aus dem Untermietverhältnis zur Räumung der Gewerbeimmobilie zu verurteilen. Daraufhin rügte die Beklagte am 18.11. in ihrer Klageerwiderung u. a. zahlreiche Verfahrensverstöße des für das Verfahren zuständigen Richters am Landgericht und beantragte auch in materieller Hinsicht Klageabweisung. Sie verband dies mit ihrer Ablehnung des Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit gem. § 42 ZPO.
Die Klägerin erweiterte am 21.11.2021 ihre Klage und beantragte, dass die Beklagte auch nicht näher konkretisierte Umbaumaßnahmen zu unterlassen habe. Der Richter setzte der Beklagten sodann eine Frist zur Stellungnahme zu dieser Klageerwiderung.
Zu Unrecht, so das OLG Karlsruhe in seiner späteren Entscheidung. Ein Antrag auf Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit führt gem. § 47 ZPO dazu, dass er nur unaufschiebbare Handlungen vornehmen darf, eine Stellungnahmefrist zu setzen, entspricht diesem Kriterium jedoch nicht.
Wie der betroffene Richter am 12.01. 2022 in einer dienstlichen Äußerung mitteilte, habe er das Inhaltsverzeichnis der Klageerwiderung angesehen, zur Kenntnis genommen, dass diese 103 Seiten umfasse, und sich entschlossen, wegen der Klageerweiterung und der insoweit notwendigen weiteren Stellungnahme der Beklagten eine entsprechende Frist zu setzen, ohne die Klageerwiderung selbst durchzulesen, da die Sache noch nicht ausgeschrieben gewesen sei. Das Ablehnungsgesuch habe er übersehen, ebenso das erneute Ablehnungsgesuch und den Hinweis auf § 47 ZPO.
Dies begründet nach Auffassung des OLG Karlsruhe die Besorgnis der Befangenheit und somit das Ablehnungsgesuch, weil der zuständige Richter mehrfach sorgfalts- und pflichtwidrig gehandelt hat.
So wiegt bereits der Verstoß gegen die Wartepflicht gem. § 47 I ZPO schwer. Zu den Verfügungen vom 22.11 und 03.12.2021 war der Richter wegen der bereits rechtshängigen Ablehnungsanträge nicht befugt. Dieser Verstoß stellt auch kein einfaches Versehen dar, sondern begründet den Verdacht einer andauernden fehlenden Sorgfalt des Richters bei der Wahrnehmung der Rechte und der Vorbringen der Beklagten.
Leider ist es aufgrund der überlasteten Gerichte immer wieder zu beobachten, dass gerade umfangreiche Schriftsätze nicht oder nicht in der gebotenen Tiefe gelesen werden. Der hier betroffene Richter wies – im Grundsatz auch sicher verständlich – darauf hin, dass sich die Richterschaft oft erst im Rahmen einer Terminvorbereitung näher mit den Schriftsätzen beschäftige, da vorher schlicht die Zeit dafür fehle. Auch der Justiz fehlt es sicherlich – wie allerorts – schlicht am Personal. Aber kann das tatsächlich eine Entschuldigung für Untätigkeit sein? Als betroffener Parteivertreter bittet man oft vergeblich um einen richterlichen Hinweis, der das Verfahren dann an der einen oder anderen Stelle vereinfachen könnte. Es fällt zunehmend schwer, den eigenen Mandanten zu vermitteln, warum in der eigenen Sache nichts voran zu gehen scheint.
Die Lösung dieses Dilemmas haben letztlich auch die anwaltlichen Vertreter selbst in der Hand und sie ist (vermeintlich) ganz einfach: statt nach einem kurzen außergerichtlichen Schlagabtausch ein Klageverfahren anzustrengen, sollten Anwälte wie Parteien auch die Mittel der alternativen Streitbeilegung ernsthaft in Betracht ziehen. Viele Streitigkeiten könnten auch ohne die mögliche Frustration eines unzureichend moderierten Gerichtsverfahrens zu einer Lösung kommen. Eine Abschichtung der oft sinnlos übereilten Klageverfahren macht dann auch unsere Justiz wieder handlungsfähiger. Es fehlt leider auf weiter Ebene hierzu an Aufklärung und möglicherweise auch finanziellen Anreizen durch das RVG.
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